'Die Bälle hoch!'
  jonglieren.at: Background: Historisches: "Wirf die Bälle hoch!"

  Jongliertraditionen der Pazifikinseln

  Wolfgang Schebeczek

  aus:
    Arts de la piste n° 15 (Janvier 2000), p 23

         
"Kita'ita'i ake te rama", so lautet der Refrain eines alten Liedes, das in früheren Zeiten auf der ostpolynesischen Insel Mangaréva vor allem bei Vollmond gesungen wurde. Das war die bevorzugte Zeit, um Jonglierspiele abzuhalten und der Refrain bedeutet: "Wirf die Bälle hoch!" Das Lied ist einer der vielen Belege für die eigenständigen Jongliertraditionen der Pazifikinseln.

Das Jonglieren mit Bällen, genauer gesagt mit Nüssen oder anderen Früchten, dürfte früher in ganz Polynesien verbreitet gewesen sein. Am besten unterrichtet sind wir über das tonganische Jonglierspiel Hiko. Es wurde schon von Mitreisenden von James Cook auf dessen zweiter Pazifikreise (1772-1775) beobachtet, und auch heute ist es auf Tonga durchaus noch bekannt. Jedenfalls hat die Los Angeles Times noch 1978 berichtet, dass in der tonganischen Hauptstadt Nuku'alofa wahrscheinlich mehr Jongleure pro Quadratmeile leben als auf irgendeinem anderen Platz der Welt. Von anderen polynesischen Inseln und Inselgruppen, etwa Tuvalu, Samoa, Uvea, der nördlichen und südlichen Cook-Gruppe, den Marquesas-Inseln, dem Tuamotu-Archipel, den Gambier-Inseln und Hawaii wissen wir aus der kulturanthropologischen Literatur, dass in den alten Gesellschaften Jonglierspiele verbreitet waren. Vereinzelt finden sich dort auch Hinweise auf mikronesische Inseln.

Das auffälligste Charakteristikum des Jonglierens im Pazifikraum ist wohl, dass es eine so gut wie ausschließlich weibliche Beschäftigung ist. Eine Erwähnung männlicher Jongleure habe ich nur in einigen Mythen und Legenden gefunden. Das "Ballwerfen" wird in Bezug auf manche Inseln als reines Kinderspiel beschrieben, auf anderen dürfte es nur von erwachsenen Frauen betrieben worden sein. Zumeist läuft es als Wettbewerb ab. Ein Lied begleitet das Jonglieren und es geht darum, das Lied jonglierend fertig zu singen bzw. zu rezitieren. Dabei darf keine Frucht hinunterfallen. Ein Fehler bedeutet Ausscheiden und die Jongleurin, die zuletzt übrig bleibt, hat gewonnen. In Mangaréva gab es bei Festen regelrechte Wettkämpfe der besten Jongleurinnen.

Interessanterweise dürfte überall dasselbe Jongliermuster verwendet oder zumindest bevorzugt worden sein, nämlich jenes, das die westlichen Jongleure "Shower" nennen. Bei dieser schwierigen Jonglierart bewegen sich die Bälle annähernd auf einer Kreisbahn. Dabei ist ein erstaunlich hohes technisches Niveau entwickelt worden. Über 8-Balljonglagen, die im Westen in Bezug auf den Shower schon als einsamer Rekord gelten, wird gleich aus mehreren Inselgruppen berichtet. Fred Walpole, der 1844-1848 den Pazifik bereiste, beschreibt ein samoanisches Mädchen, "das gleichzeitig neun Orangen geworfen und gefangen hat", und es gibt sogar Hinweise, dass in Tonga mit bis zu zehn Tuitui-Nüssen gespielt worden ist.

Zumeist stellte das Jonglieren bloßen Zeitvertreib dar. In einigen Regionen Polynesiens hatte es aber auch darüber hinaus Bedeutung. So verwendeten die Mütter auf den Marquesas Jonglierlieder, um den Kindern deren Stammbaum beizubringen. Und zumindest in Mangaréva stand Jonglieren mit Zeremonien und rituellen Festen in Zusammenhang; bei Begräbnissen und beim sogenannten Kokoti-me'i-Fest war Jonglieren fester Bestandteil. Bei letzterem wurde es sogar vor Publikum vorgeführt.

Die Beliebtheit der Jonglierspiele in Ozeanien spiegelt sich auch in Mythen und Legenden wider. So wird beispielsweise erzählt, dass das Hiko-Spiel der tonganischen Unterwelt Pulotu entstammt. Die blinde Göttin Hikuleo soll sich dort mit Mädchen umgeben haben, die mit Augäpfeln jonglierten. Auch Hina, die bedeutendste polynesische Göttin war mit dem Jonglieren vertraut. Und nach einer Legende aus Mangaia soll der Held Ngaru das Jonglieren auf der Erde eingeführt haben, nachdem er es in der Unterwelt erlernt und Feen der Oberwelt in einem Jonglierwettkampf besiegt hatte. Mit diesen Legenden und Liedern, Wettkämpfen und Rekorden, sowie der engen Verflechtung von Spiel und gesellschaftlichem Leben, ist die Jonglierkultur der Pazifikinseln wohl einzigartig.



Wolfgang Schebeczek (Wien) beschäftigt sich seit längerer Zeit mit der Frage, wie und in welchem sozialen Kontext das Jonglieren entstanden sein mag. Dementsprechend zählen die Frühgeschichte sowie kulturanthropologische Aspekte des Jonglierens zu seinen besonderen Interessensgebieten. Der obige Artikel erschien in französischer Übersetzung unter dem Titel "Haut les balles!". La tradition jonglistique des îles du Pacifique in der Zeitschrift Arts de la piste, herausgegeben von: HorsLesMurs, Association nationale pour le développement des arts de la rue et des arts de la piste. Die Publikation erfolgte im Rahmen des Dossiers L'art de la jongle - une révolution française?, dessen Herausgabe von Jean-Michel Guy, einem Forschungsbeauftragten des Ministère de la Culture et de la Communication für das Gebiet Circus, betreut wurde.
Eine ausführlichere Darstellung der Jongliertraditionen der Pazifikinseln vom selben Autor wurde in der europäischen Jonglierzeitschrift Kaskade veröffentlicht: The juggling girls of the Pacific islands/Die jonglierenden Mädchen der Pazifikinseln, Part 1/Teil 1: Fuofua kau moua.... (No. 51 (3/1998), pp 12-15), Part 2/Teil 2: Kita 'ita'i ake te rama (No. 52 (4/1998), pp 14-17), Part 3/Teil 3: "Tiria mai taku pei!" (No. 53 (1/1999), pp 32-35). Begleitet wurde die Artikelserie von einer dreiteiligen Bibliografie: Bibliographic Notes. Juggling Traditions of the Pacific Islands/Bibliografischen Notizen. Jongliertraditionen der Pazifikinseln (No. 51 (3/1998), pp 16-17, No. 52 (4/1998), pp 20-21, No. 53 (1/1999), pp 26-27).
Ferner hat Wolfgang Schebeczek zum selben Thema mehrere Postings an die Newsgroup rec.juggling verfasst, u.a.: Polynesian juggling records (long) (Sun, 07 Mar 1999)
Weitere Beiträge des Autors auf den Webseiten von jonglieren.at: siehe: Index: Schebeczek, Wolfgang

Alle Rechte verbleiben beim Autor. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von HorsLesMurs und mit Einverständnis des Autors. Oktober 2001.