Re: Klavier und/ oder Jonglieren


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Verfasst von Wolfgang Schebeczek (wsch [AT] EUnet . at) am 17. Mai 2004 um 09:21:28:

Als Antwort auf: Re: Klavier und/ oder Jonglieren verfasst von Sternwart am 12. Mai 2004 um 21:13:28:

[Eigentlich hatte ich eine Antwort in zwei bis drei Sätzen vorgesehen, aber ich wollte Christian nicht desavouieren und schließlich musste das alles ja auch mal gesagt werden. ;-]

Nadja:
::: - G e d a n k e n dazu?

Ich:
:: Ja, mehrere. Aber in welche Richtung geht dein Interesse?
:: [...] Formale Ähnlichkeiten zwischen Klavierstücken und
:: Jongliermustern (also warum man jedes Klavierstück jonglieren
:: und jedes Jongliermuster am Klavier spielen,Shannon's Theorem
:: aufs Klavier spielen anwenden kann etc.)? [...]

Sternwart:
: Also das würde mich jetzt interessieren. (eigentlich brennend,weil
: ich schon länger nach einer Idee suche, Siteswaps oder irgendwelche
: verwandten Prinzipien in ein Echtzeit-Computermusikprogramm zu
: integrieren.)

Ich:
Mir geht es eigentlich mehr um den Akt des Klavierspielens selber und nur zum Teil um dessen hörbares Resultat; aber beginnen wir auf Sternwarts Wunsch mit der Umsetzung von Siteswaps in eine Melodie und vice versa. Der/die LeserIn muss hier mit Siteswaps und formalen Jongliermustertheorien nicht wirklich vertraut sein. Das meiste will ich kurz erklären und selbst wenn diese Erklärung nicht zündet, kann man einiges überspringen und - wie ich hoffe - doch den meisten Überlegungen intuitiv folgen.

Eines meiner Paradebeispiele in früheren Siteswap-Workshops war ein Jongliermuster, das ich "Blaue Moschee" getauft habe. Das dem Muster zugrunde liegende Siteswap ist: 63344453444. Für unsere Zwecke genügt es zu wissen, dass hier jede Zahl für einen Wurf steht. Die Wurffolge wird endlos wiederholt. Die Würfe erfolgen abwechselnd links und rechts. Die Zahl gibt an, um wieviele Beats später der im betrachteten Beat geworfene Ball (oder das Jonglierobjekt) wieder geworfen wird. Je höher er geworfen wird, um so später kommt er runter, um so später wird er also wiedergeworfen. Die Siteswap-Zahlen sind also (im Allgemeinen) ein Maß für die Wurfhöhe. Nennen wir z. B. den Ball, mit dem die Blaue Moschee begonnen wird, c (weil er - sagen wir - meine Lieblingsfarbe Cyan hat). Dann wird c entsprechend dem Schema

     1. Zyklus            |2. Zyklus               
Beat 1           7        12          18           
  ...6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4 6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4...
  ...c . . . . . c . . . . c . . . . . c . . . ....

in den Beats 1, 7 (= 1 + 6), 12 (= 7 + 5),18 (= 12 + 6)... geworfen. Da nun bei Beat 2 kein "c" steht, muss dort ein anderer Ball geworfen werden. Nehmen wir an, wir hätten noch Bälle in meinen Sekundärlieblingsfarben dottergelb, efeugrün, feuerrot, granitgrau und azurblau zur Verfügung, und wir wollen sie in der angegebenen Reihenfolge einsetzen. Dann ergibt die Beatnummer-plus-Siteswapzahl-Regel für den dottergelben Ball d die Würfe:

...6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4 6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4...
...c d . . d . c . d . . c d . . d . c . d . ....

Für den efeugrünen Ball e:

...6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4 6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4...
...c d e . d e c . d e . c d e . d e c . d e ....

Und für den feuerroten Ball f:

...6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4 6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4...
...c d e f d e c f d e f c d e f d e c f d e f...

Da keine "Lücken" mehr frei sind, d. h. auf allen Beats bereits einer der Bälle c-f geworfen wird, bringen wir den granitgrauen und azurblauen Ball nicht mehr unter. Die Blaue Moschee ist offensichtlich ein 4-Balltrick! Dass sich alles "wunderbar ausgeht", d. h. jeder Ball immer in einer "freien Lücke" landet, liegt an den Eigenschaften von Siteswaps. (Und man kann übrigens mit obigem Verfahren testen, ob eine gewisse Zahlenfolge jonglierbar ist. Letzteres trifft genau dann zu, wenn das beschriebene Verfahren "aufgeht". Es gibt allerdings einfachere Tests für denselben Zweck.)

Soweit so nichts-mit-Musik-zu-tun-habend. Zufällig bilden nun aber die Anfangsbuchstaben meiner Lieblingsfarben den Beginn der C-Dur-Tonleiter. Got it? Mangels Klavier, das ich aber eh nur einfingrig bedienen könnte, hab ich c d e f d e c f d e f gerade auf der Blockflöte geblasen und muss sagen: Ich bin nicht unzufrieden. Zwar nicht hitparadenverdächtig, aber für den Song-Contest würde es allemal reichen. Und außerdem: meine allererste Komposition!

Kehrt man die Methode um, so kann man jede Folge von Tönen in ein Siteswap übersetzen. Nehmen wir z. B. die Melodie, die der Londoner Big Ben zur vollen Stunde von sich gibt: a f g c c g a f. Wir nehmen an, dass Big Ben diese Melodie unaufhörlich wiederholt: ... a f g c c g a f a f g c c g a f... und ersetzen die Töne durch Würfe mit Bällen in den entsprechenden Farben. Der azurblaue Ball wird daher auf Beat 1 geworfen, das nächste Mal auf Beat 7. Die erste Siteswapzahl ist daher 7 - 1 = 6, der feuerrote auf Beat 2, dann wieder auf Beat 8, ergibt 8 - 2 = 6 usw. Big Ben liefert somit die Zahlenfolge:

...a f g c c g a f a f g c c g a f...
...6 6 3 1 7 5 2 2 6 6 3 1 7 5 2 2...

Wie oben erwähnt, kommt bei dem Verfahren immer ein gültiges Siteswap, heraus. 66317522 muss also jonglierbar sein. Puristen werden einwenden, dass Big Ben's Kennmelodie eigentlich alle 4 Taktschläge eine Pause enthält, die ich nicht berücksichtigt habe. Stimmt, aber das lässt sich reparieren. Sinnigerweise z. B. mit einer Jonglierpause, also einem Loch (auf Siteswapsch: 0):

...a f g c - c g a f -
...7 7 4 2 0 8 6 3 3 0

Man beachte, dass sich mit dem Einfügen der Pausen die Positionsdifferenzen gleicher Töne/Bälle und damit die alten Siteswapzahlen um 1 erhöhen.

[Seitenbemerkung nur für jene, die mit dem Begriff Orbit etwas anfangen: Zeichnet euch den Orbitgraphen des Siteswaps (egal ob die Version mit oder die ohne Pausen) auf. Er weist nämlich eine erstaunliche Einfachheit auf. Sie beruht darauf, dass Big Ben genau die vier verschiedenen Töne des ersten Takts im zweiten wieder verwendet, allerdings in anderer Reihenfolge. Dass die neue Reihenfolge fast die umgekehrte des ersten Takts ist, vermittelt den subjektiven Eindruck, dass die Melodie in Takt 2 "auf den Kopf gestellt" wird und verursacht auch, dass der Orbitgraph eine "fast mandelförmige Symmetrie" aufweist. Was ich damit meine, wird klar, wenn man ein "echtes" Palindrom, das jeden Buchstaben genau zweimal enthält, also z. B. afgccgfa in ein Siteswap umwandelt (ergibt übrigens 7531) und dessen Orbitgraphen zeichnet.]

Ob Sternwart mit dieser Musikalisierung von Siteswaps für seine Zwecke was anfangen kann, ist jedoch fraglich. Erst einmal ist die Übersetzung Siteswap in Melodie nicht eindeutig. Man kann/muss zunächst nämlich soviele Töne festlegen, wie das Muster Bälle hat; erst dann ergibt sich der Rest automatisch. Ich muss gestehen, dass ich vorher etwas gelogen habe. Die obige musikalische Version der "Blauen Moschee" war nicht meine erste, sondern meine zweite Komposition. Einem prominenten Beispiel folgend, hab ich nämlich zunächst b-a-c-h als Anfangstöne gewählt. Das Resultat war furchtbar! Erst im zweiten Versuch hat sich dann c-d-e-f als anhörbarer erwiesen. Die Freiheit, die bei der musikalischen Transposition von Siteswaps besteht, kann sich also dramatisch auf das Ergebnis auswirken. Ob man das als Vorteil oder Nachteil ansieht, hängt davon ab, worauf man mit dem Ganzen hinauswill.

Zweitens bleibt bei der Übersetzung einiges auf der Strecke. Die "Blaue Moschee" wird nicht nur durch das erwähnte Siteswap beschrieben, sondern es ist auch festgelegt, wie die Bälle zu fliegen haben: 6 als Säule außen, 5 als "Tennisball" (also von außen nach außen), 3 bzw. 4 als mehr oder weniger normale Kaskade- bzw. Fontänewürfe. Diese zusätzliche Information geht bei unserer Übersetzung verloren. Ebenso spiegelt sich in der Melodie nicht wieder, dass mit zwei Händen und zwar abwechselnd geworfen wird. Z. B. würde sich der 7-Balltrick 966 musikalisch nicht vom Passingmuster 7-Keulenwalzer unterscheiden, dem dasselbe Siteswap (4-händig interpretiert) zugrundeliegt.

Bei der Übersetzung in die andere Richtung geht z. B. die Länge der Töne bzw. Pausen und die gesamte Dynamik verloren. Ich werde weiter unten einen Vorschlag machen, wie man Tonlänge und die "Händigkeit" von Würfen mitberücksichtigen kann, letztere bleibt allerdings "unhörbar". Man könnte aber durch zusätzliche Übersetzungsvorschriften auch die Wurfhände in die Musik einbauen und ebenso alle andere erwähnten Schwachstellen beseitigen. Allerdings wären solche Vorschriften ziemlich willkürlich und man wird das Jongliermuster im Musikstück und vice versa noch weniger erkennen als mit der oben beschriebenen Methode.

Das spricht einen weiteren Punkt an, der Sternwart enttäuschen könnte. Ich hab zwar erwähnt, dass sich eine charakteristische Eigenschaft der Big-Ben-Melodie im Jongliermuster wiederspiegelt, aber das war nur auf Umwegen zu ergründen und vermutlich eher ein Ausnahmefall. Um das zu illustrieren, betrachten wir nochmals die Blaue Moschee. Ihre Grundidee ist, dass ein Ball (nämlich der cyanfarbene) auf der rechten Seite hoch in einer Säule (Siteswap-Zahl 6) geworfen wird, anschließend in einem hohen (aber niedriger als die Säule) Bogen (Siteswap-Zahl 5) zur anderen Seite fliegt, dort wieder in einer hohen Säule aufsteigt (Siteswap-Zahl 6 im nächsten Zyklus) , dann im Bogen wieder zurück usw., während die anderen drei Bälle in einem unspektakulären Muster unter Kopfhöhe (Siteswap-Zahlen 3, 4) herumgrundeln. Mit einiger Fantasie kann man in der Flugbahn von c die Silhouette einer Moschee (Zentralbau mit Kuppel + 2 Minarette) erkennen. (Ok, seitlich stark gestaucht, aber ich sagte ja: mit einiger Fantasie.) Daher also der Trickname.

[Seitenbemerkung für Istanbulexperten, die hier einwenden werden, dass die Blaue Moschee sechs Minarette hat: Stimmt, aber wir jonglieren die Frontalansicht, bei der bei Vernachlässigung von Perspektiveffekten die hinteren vier durch die beiden vorderen verdeckt werden. Wem's jetzt zu kompliziert wird, darf aber - einige Wienkenntnisse vorausgesetzt - den Trick in "Karlskirche" umbenennen.]

Wie zwingend oder wenig zwingend auch immer das Bild umgesetzt ist, niemand wird die Dominanz von Ball c und die Statistenrolle der anderen Bälle bestreiten. Im Musikstück "Blaue Moschee" ist es aber gerade umgekehrt. Wird der "Star-Ball" c geworfen, ertönt zwar im korrespondierenden Musikstück gewissermaßen als Leitmotiv "sein" Ton c, aber aufgrund des Konstruktionsprinzips ist c die am seltensten gespielte Note, also gewissermaßen am unauffälligsten. Aber nicht einmal dieses "Negativbild" des Tricks wird wirklich hörbar. Von den Parameterwechseln, die wir beim Musikhören wahrnehmen, ist die Häufigkeit, mit der ein Ton bestimmter Höhe auftritt, wohl nur von untergeordneter Bedeutung. Wenn also Jongliermuster so in Musik umgesetzt werden sollen, dass das visuelle Geschehen im akustischen einigermaßen wieder erkannt werden soll, ist das oben beschriebene Konzept wohl kaum tauglich. Das simplere Strickmuster Wurfhöhe = Tonhöhe, also z. B.

...6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4...
...h e e f f f g e f f f...

wäre weit zielführender. Jedenfalls habe ich es beim alten DOS-Animationsprogramm JuggleMaster zeitweilig hilfreich gefunden, dass es auf Wunsch bei der Animation eines Siteswaps die jeweiligen Wurfhöhe nach eben beschriebenem Prinzip dazutrötet. Freilich hat dieser Übersetzungsalgorithmus den Schönheitsfehler, dass er in die andere Richtung nicht immer funktioniert. Im Unterschied zu meiner obigen Methode lässt sich nun nicht mehr jede Melodie jonglieren. Und natürlich bleibt die Umsetzung vom Visuellen in das Akustische auch hier meilenweit etwa hinter der Smetanas "Moldau" oder Mussorgkis "Bildern einer Ausstellung" zurück.

Aber kommen wir nun zum Thema Klavier. Stellen wir uns vor (oder tun wir es tatsächlich, wenn wir eines zur Hand haben), dass wir die Blaue Moschee auf dem Klavier spielen, und zwar transponiert mit der zuerst beschriebenen (und nicht der JuggleMaster-)Methode. Mit nur einem Finger, auch wenn du ExpertIn bist. Das sollte nicht schwer sein, sobald du herausgefunden hast, wo das c ist: weiße Taste links von einem schwarzen "Zweierblock". d e f g a h sind die weißen Tasten rechts daneben und zwar in der angegebenen Reihenfolge von links nach rechts. Sobald du dich davon überzeugt hast, dass Wolfgang nicht nur einen originellen 4-Balltrick erfunden hat, sondern sich auch darauf versteht, anmutige Melodien zu komponieren, lassen wir das musikalische Resultat einmal beseite. Wer ein elektronisches Klavier hat, zieht also den Stecker, wer unwahrscheinlicherweise ein stummes Klavier besitzt, verwendet dieses. Ansonsten tun es auch Ohrstöpsel. Wer bisher die Klavierspielerei imaginiert hat, hat Wahlfreiheit.

Wir intonieren (oder heißt es jetzt inintonieren oder gar detonieren?) wiederum die Blaue Moschee. Da wir nichts hören, ist es ungefähr so, wie wenn wir im unbeleuchteten Arlbergtunnel jonglieren: Das Muster ist da, aber wir sehen (bzw. in unserem Fall: hören) es nicht. Was entspricht dann nun den Jonglierbällen? Bisher waren es die Töne c d e ..., aber die gibts nicht mehr. Wohl aber die entsprechenden Klaviertasten. Die Idee, dass ein Pianist die Tasten seines Instruments jongliert, ist ja auch gar nicht so abwegig, oder? Die Tasten entsprechen also den Jonglierbällen. Genauer gesagt: jene Tasten, die wir zumindest einmal betätigt haben. Die restlichen stellen gewissermaßen ein Vorrat dar, den wir aber - wie zuvor den granitgrauen und den azurblauen Ball - nicht brauchen. Wir könnten sie auch aus dem Klavier ausbauen, ohne dass das die Spielbarkeit der Blauen Moschee beeinflusst, genau so, wie wir den granitgrauen und den azurblauen Ball zu Hause lassen hätten können. (Aus praktischen Gründen rate ich vom Ausbau aber eher ab...)

Wenn die Bälle den Klaviertasten entsprechen, was entspricht dann den Händen des Jongleurs? Naheliegenderweise: die Finger, die die Tasten "manipulieren". Beziehungsweise in unserem Fall der eine Finger, auf den wir uns beschränkt haben. Mit anderen Worten, wir haben bisher die Blaue Moschee mit nur einer Hand jongliert. In der Tat kann jedes Siteswap kann auch als einhändiges Muster (oder auch als von beliebig vielen in beliebiger Reihenfolge werfenden Händen) interpretiert werden. Die Standardinterpretation sieht aber ein striktes Abwechseln von linker und rechter Hand vor. Nach orthodoxer Interpretation haben wir also eigentlich nicht das Siteswap 63344453444 auf dem Klavier gespielt, sondern c06060808080a060808080. (Die ursprünglichen Siteswapzahlen müssen wir verdoppeln, da wir ja jetzt zwischen je zwei Würfen einen Extrabeat für die linke Hand mitzählen, auf dem allerdings nichts (= 0) passiert. "c" ist die übliche Abkürzung für 2 x 6 = 12, "a" für 2 x 5 = 10.) Aber es ist nicht schwer, 63344453444 nach Standardinterpretation zu klimpern. Wir nehmen einfach einen zweiten Finger hinzu (verwenden also etwa linken (L) und rechten (R) Zeigefinger) und wechseln sie strikt ab: L schlägt c an, R die d-Taste, dann L e usw. Die Analogie ist nun perfekt: Zwei Finger jonglieren die Tasten c, d, e, und f. Man beachte: Die Berücksichtigung der "Händigkeit" ändert das musikalische Geschehen nicht. Aber erstens ist unser Klavier ohnehin stumm und zweitens sind wir befriedigt, dass nun das Modell das Jongliermuster genauer beschreibt.

Die Analogie geht noch tiefer. Betrachtet man ein Jongliermuster aus der "Sicht" einer Hand, so besteht es aus einer Abfolge von abwechselndem Fangen und Werfen oder anders ausgedrückt einem Zyklus von sich abwechselnden Zeitspannen, in der sich ein Ball in der Hand befindet bzw. die Hand leer ist. Die Länge dieser Zeitspannen sollen im Folgenden als "Verweildauer" bzw. "Leerzeit" bezeichnet werden. Aus der "Sicht" eines Balles (ja das wär was, wenn die Bälle wirklich sehen könnten! Dann würden sie nicht immer neben die Hände plumpsen!) besteht das Jongliermuster aus einer Abfolge von abwechselndem Gefangen werden und Geworfen werden, also einem Zyklus von sich abwechselnden Zeitspannen, in denen sich der Ball in einer Hand bzw. in der Luft befindet. Die Länge der ersteren Zeitspanne ist die bereits eingeführte "Verweildauer", die zweitere soll im Folgenden aus naheliegenden Gründen als "Flugzeit" bezeichnet werden.

Entkleidet man also einen (Wurf)Jongliertrick aller Schnörkel und Details wie etwa hinter dem Rücken werfen, Keulen in rasche Dreifachdrehung versetzen oder einen Passingpartner umkreisen, bleibt als Grundstruktur ein nach einem gewissen Schema ablaufendes Zusammenkommen und sich Lösen von Objekten zweierlei Typs (Hände - Bälle) übrig. Im Grunde hält diese Struktur nur eine bestimmte Strategie fest, wie das "Ziel des Jonglierens", nämlich immer nur höchstens einen Ball in einer Hand zu halten (Multiplexmuster wollen wir hier ausschließen) und jeden Ball zur selben Zeit mit höchstens einer Hand zu berühren (beidhändiges Fangen und/oder Werfen eines Balls soll auch verboten sein) realisiert werden kann. Klavierspielen weist dieselbe Grundstruktur auf: Sieht man von der Pedalarbeit und der Art des Tastenanschlags ab, bleibt eine Abfolge von Finger-Taste-Begegnungen und -Trennungen übrig. Dass ein Finger zwei Tasten gleichzeitig anschlägt, wird wohl selten, wenn überhaupt Sinn machen (zumindest beim europäischen Verständnis von Konsonanz), wir können also "Multiplex-Anschläge" ausschließen. Und eine Taste gleichzeitig mit mehr als einem Finger anzuschlagen, ist wohl stets ein Unding, wenn wir von Kompositionen für mehrere Klaviere absehen. Das Verbot des mehrfingrigen Anschlags, das dem oben gemachten Verbot mehrhändiger Würfe eines Balls entspricht, stellt also auch keine praktische Einschränkung dar. (Etwas schade finde ich es allerdings schon, dass Beethovens "Türkischer Marsch" für acht Klaviere damit der Jonglierwelt entgeht.)

Was ist dann in diesem Klavierspiel-Modell eines Jongliermusters das Pendant zu den oben definierten Zeitgrößen? Für die Verweildauer offensichtlich die Anschlagdauer, also die Zeit, die ein Finger eine Taste gedrückt hält. Der Leerzeit entspricht die Pause, die ein Finger zwischen zwei Anschlägen hat und der Flugzeit der Zeitabstand zwischen dem Auslassen einer Taste und dem Beginn des nächsten Anschlags derselben Taste. Nennen wir letzteres die Ruhezeit der Taste, da es sich ja um die Länge der Zeitspanne handelt, in der sich die Taste in "Ruhestellung" befindet. Dass das, was beim Jonglieren (nach Weglassen der Schnörkel und Details) das Aufregende ist, nämlich die fliegenden Bälle, beim Klavierspielen der ganz und gar unspektakulären "Tastenruhe" entspricht, und dass umgekehrt das beim Jonglieren (wieder nach Weglassen z. B. von publikumswirksamen Ballführmanövern) ziemlich langweilige Halten eines Balles im Klavierspiel-Modell das eigentlich Interessante darstellt, nämlich die Erzeugung eines Tons, mag die Freude über die gefundene Analogie etwas trüben. Aber vergessen wir nicht: Vom Effekt des Jongliermusters bzw. eines Klavierstücks haben wir bereits abstrahiert; wir jonglieren ja im finsteren Arlbergtunnel bzw. spielen auf einem stummen Klavier!

Überprüfen wir kurz, ob das Ganze noch zu unserer Siteswap-Übersetzung in Musik passt. Wie erwähnt beschreibt eine Siteswap-Zahl die Zeitdifferenz zwischen zwei aufeinanderfolgenden Würfen ein und desselben Balles, das ist also: Flugzeit + anschließender Verweilzeit in der fangenden Hand. Im Klavier-Modell entspricht das der Summe aus Ruhezeit und anschließender Anschlagzeit einer Taste, also der Zeitdifferenz zwischen zwei aufeinanderfolgenden Lösevorgängen ein und derselben Taste. Das ist vermutlich nicht ganz das, woran du oben bei meiner Festlegung des Übersetzungsverfahrens gedacht hast: Beim Spielen einer Note zu einem gewissen Zeitpunkt denkt man wohl eher an den Beginnzeitpunkt des Tons als an seinen Endezeitpunkt. Die Vorschrift, dass in

6 3 3 4 4 4 5 3 4 4 4
c d e f d e c f d e f

die Note c sechs Taktschläge nach dem ersten Taktschlag wieder gespielt werden muss, die Note d drei Taktschläge nach dem zweiten Taktschlag usw., wird man also für Klavierinterpretation normalerweise so deuten, dass zwischen dem Beginn des Anschlags der c-Taste und dem Beginn des nächsten Anschlages derselben Taste 6 Zeiteinheiten liegen, bei der d-Taste sind es drei Zeiteinheiten usw. Das heißt aber: Der Siteswap-Zahl entspricht nicht die Summe aus Ruhezeit und anschließender Anschlagzeit einer Taste, wie wir es nach oben beschriebenem Modell gerne hätten, sondern die Summe aus Anschlagzeit und anschließender Ruhezeit. Tatsächlich macht die Siteswap-Notation überhaupt keine Aussage über die Länge der Verweildauern und dementsprechend enthält die musikalische Übersetzung der Blauen Moschee (also das "cdefdecfdef") auch keine Information, wie lange jeder Ton zu halten ist. Wahrscheinlich hast du dir, wie du oben die Blaue Moschee ins (gedachte) Klavier gehämmert hast, auch gar nicht den Kopf über diesen Informationsmangel zerbrochen, sondern alle Noten z. B. als Viertelnoten interpretiert. Ebenso wie du dich vermutlich in der Regel beim Jonglieren nicht um die Länge der Verweilzeiten kümmerst. Hand auf's Herz, hast du gewusst, dass du bei einem (in perfekt alternierendem Rhythmus) gespielten Shower oder einem (perfekt) synchronen 4-Ball-Halbshower verschiedene Verweilzeiten für linke und rechte Hand verwendest? Nein? Eben. Die Steuerung der Verweilzeiten erfolgt im Allgemeinen unbewusst und das ist der Grund, warum wir ein Siteswap vom Blatt jonglieren können, ohne diesbezügliche Information haben. Wäre es nicht so, würde die Siteswap-Notation (allein) nicht viel taugen.

Dass wir uns um Verweilzeiten nicht kümmern, heißt übrigens nicht, dass dies der triviale Teil des Jonglierens ist. Im Gegenteil. Wie mehrere Studien an der Faculty for Human Movement Sciences der Freien Universität Amsterdam gezeigt haben, haben wir bei der Wahl der Verweilzeiten weniger Freiheit, als es das oben skizzierte Strukturmodell glauben macht. Nach letzterem könnte sie ja jeden Wert zwischen 0 (= extremes Hot potato juggling, der Ball wird nicht wirklich gefangen sondern gleich weggeprellt) und dem Zeitpunkt des nächsten Fangens (spätesten dann muss der gehaltene Ball wegen der No-Multiplex-Regel weg sein) annehmen. Tatsächlich zwingt uns unsere Motoriksteuerung hier nicht nur ein viel kleineres Zeitntervall auf, sondern es gibt auch eine Handvoll bevorzugter Zahlenwerte, bei denen das Jonglieren deutlich stabiler abläuft. Mit ein Grund, warum die Wahl der Verweilzeit gar nicht so einfach bewusst zu steuern ist. Wie die zitierten Studien ebenfalls zeigen, gehen Jonglieranfänger, Intermediates und Experten mit diesen Verweilzeiten jeweils anders um. Wenn man so will, heißt Jonglieren lernen also die Verweilzeit unter (unbewusste) Kontrolle zu bringen.

Aber zurück zum Klavier. Da sich die Siteswap-Notation nicht um Verweilzeiten kümmert, können wir diese auch als konstant (d. h. für alle Würfe gleich) annehmen, was mit Ausnahme der oben erwähnten Beispiele und einiger Passingmuster (Hurried patterns, Slow/Fast Patterns) ohnehin eine gute Näherung ist. In diesem Fall stimmt dann für den Wurf eines Balls die Summe aus Flugzeit und anschließender Verweilzeit mit der Summe aus Verweilzeit vor dem Abwurf und Flugzeit überein. Und unser Übersetzungsverfahren von Siteswap in Musik fügt sich dann exakt in unser Klavier-Modell eines Jongliermusters ein. Das hätten wir übrigens auch direkter erreichen können, wenn wir ein Siteswap gleich so uminterpretieren, dass eine Siteswap-Zahl die Zeitdifferenz zwischen zwei aufeinanderfolgenen Fängen ein und desselben Balls misst. Diese Denkweise mag ungewohnt sein, aber vielleicht ist sie manchen JongleurInnen sogar sympathischer als die Standardinterpretation. Vermutlich gilt das jedenfalls für den in Berlin lebenden Jongleur Alan Blim, der sich viel mit dem Thema "Jonglieren und Musik" beschäftigt und eine eigene Notation verwendet. Ein wesentliches Charakteristikum dieser Notation ist, dass sie den Beat nicht auf den Zeitpunkt des Werfens, sondern auf den des Fangens legt. Weil man das Fangen hören kann, sieht Alan hier einen natürlicheren Zugang zum Rhythmus eines Jongliertricks.

Bisher haben wir nur (Vanilla) Siteswaps betrachtet, bei denen in einem gleichmäßigen Takt auf jeden Taktschlag höchstens ein Wurf stattfindet. Was ist aber mit synchronen Solomustern, Passingformationen mit vielen Händen, galloppierenden und anderen schrägen Rhythmen? Auch sie können auf dem Klavier gespielt werden. Was ich oben "Struktur eines Jongliertricks" genannt habe, kenzeichnet auch diese Muster. Für jede am Jongliermuster beteiligte Hand brauchen wir einen Finger (bei mehr als 5 Jongleuren also einen Co-Pianisten). Und wenn zwei oder mehrere Hände gleichzeitig werfen, heißt das einfach, dass die entsprechenden Finger einen Akkord spielen. Mit welchen Tasten? Natürlichen denen, die den gleichzeitig geworfenen Bällen entsprechen. Der Rhythmus des Werfens spiegelt sich genau in dem der Musik wieder. Und das alles ist schön anzuhören? Wahrscheinlich in der Regel nicht, Dissonanzen werden häufiger auftreten als Wohlklänge. Ein stummes Klavier zu verwenden war also weise Voraussicht. Und kann es nicht passieren, dass unser Pianist seine Finger verknoten oder Verlängerungsprothesen verwenden muss, da er sich ja nicht aussuchen darf, mit welchem Finger er welche Taste spielt? Allerdings, aber ich sehe hierin weniger einen Perfektionsmangel meines Modells als viel mehr einen des Pianisten. Hätten die Klavierspieler von Anfang an Passingmuster auf dem Klavier gespielt, hätte die Evolution bestimmt für entsprechende Finger gesorgt.

Ok, das war jetzt etwas überheblich. Natürlich hat das Modell auch Schwachstellen, es gibt noch mehr davon. Es geht hier aber um ein Gedankenexperiment, das Einsichten in die Struktur von Jongliermustern ermöglichen soll. Einen gedachten Pianisten dürfen wir uns auch als hinreichend lang- und dünnfingrig vorstellen. Auch führen nicht alle Passingmuster zu Fingerverrenkungen, wie das Beispiel des 3-Counts zeigt: Lassen wir dazu in Gedanken - oder wirklich, wenn sie zur Hand sind - Lisi und Roman einen 6-Keulenwalzer jonglieren. Lisi hat Keulen in ihren Lieblingsfarben citronengelb, dahlienlila und eisblau, Roman bevorzugt ferkelrosa, grasgrün und aquamarin. Bevor sie zu passen beginnen, jonglieren sie sich noch ein wenig ein mit einer Kaskade, übungshalber gleich synchron aufeinander eingestimmt. Das ergibt folgendes Wurfschema:

Lisi:  Rechte Hand: c   e   d  
       Linke Hand:    d   c   e

Roman: Rechte Hand: f   a   g  
       Linke Hand:    g   f   a

Die Buchstaben stehen für die Keulen in den entsprechenden Farben. Die Zeit läuft wieder von links nach rechts, zusätzlich werden die Würfe in verschiedenen Zeilen dargestellt, um sinnfällig zu machen, welche Hand wirft. Werden die Keulenfarben als Noten interpretiert, lässt sich das Ganze unschwer am Klavier spielen. Tun wir zunächst einmal so, als ob beide einhändig jonglieren. Dann entspricht jedem/r JongleurIn ein Finger, z. B. Lisi = linker Zeigefinger, Roman = rechter Zeigefinger. Wer will, kann sich jetzt als Gedächtnisstütze kleine Gesichter auf die Fingerkuppen aufmalen, im formalen Denken Geschultere finden im Anfangsbuchstaben der Namen eine Eselsbrücke. Mit beiden Fingern gleichzeitig spielen wir nun:

L: c d e c d e
R: f g a f g a

Also links die ersten drei Töne der C-Dur-Tonleiter und rechts dazu jeweils eine Quart. Um es aber nun korrekt zu machen, musst du sowohl Lisi als auch Roman auf zwei Finger aufteilen. Z. B. Lisis rechte Hand = Linker Mittelfinger, Lisis linke Hand = Linker Zeigefinger, Romans rechte Hand = Rechter Mittelfinger, Romans linke Hand = Rechter Zeigefinger. (Wer's lieber von links nach rechts aufsteigend will, vertauscht hier rechten Mittel- und Zeigefinger.) Spiele noch einmal die zweistimmige Melodie von vornhin, schlage aber abwechselnd mit Mittel- und Zeigefinger an. Das ist das Aufwärmmuster. Und jetzt zum 3-Count:

Lisi:  Pass:        *     *     *     *     *     *    
       Rechte Hand: c   e   d   c   e   d   c   e   d  
       Linke Hand:    d   f   e   d   f   e   d   f   e

Roman: Linke Hand:    g   c   a   g   c   a   g   c   a
       Rechte Hand: f   a   g   f   a   g   f   a   g  
       Pass:        *     *     *     *     *     *    
                          ^           ^           ^   

Redundanterweise ist hier noch angegeben, wann gepasst wird. Man würde dies auch herausfinden, wenn man die citronengelbe und die ferkelrosane Keule durch das Muster verfolgt. Unterschiede zum Aufwärmmuster ergeben sich nur an den mit ^ gekennzeichneten Stellen. Hier haben Lisi und Roman eine Keule ausgetauscht. Am Klavier ergibt das wieder die ersten drei Töne der C-Dur-Tonleiter + Quart, abwechselnd mit Mittelfinger und Zeigefinger gespielt, allerdings alle 6 Taktschläge mit überkreuzten Armen (rechte Hand spielt c, linke Hand gleichzeitig f). Schon ein wenig anspruchsvoller, oder? Ich meine die Fingeraktivitäten, nicht das musikalische Ergebnis. Letzteres ist haargenau dasselbe wie beim Aufwärmmuster. Da die Passes gleich lang dauern wie zuvor die Selfs (beide:
sind ja Singles), werden alle Keulen zur selben Zeit wie zuvor beim Aufwärmmuster geworfen. D. h., dass sich die Musik nicht durch die Passwürfe ändert. (Wie gesagt, das Modell ist nicht perfekt. Aber da wir ohnehin nur ein stummes Klavier verwenden, hält sich unsere Enttäuschung darüber in Grenzen.)

Noch ein Beispiel für ein komplexeres Passingmuster/Klavierstück: ein Shower, bei dem Roman nur Late Doubles spielt:

Lisi:  Pass:          *   *   *   *   *  
       Hold:            *   *   *   *    
       Rechte Hand:   c   e   f   a   g  
       Linke Hand:      d   d   d   d   d

Roman: Linke Hand:      g   c   e   f   a
       Rechte Hand:   f   a   g   c   e  
       Pass (Double): *   *   *   *   *  

Das Klaviermuster ergibt sich wieder durch die Zuordnung Hand - Finger. Man beachte, dass mit dem Finger, der Lisis linker Hand entspricht ein Dauerton d (Hold!) anzuschlagen ist (Pedal einsetzen!). Wem's noch immer zu einfach ist, soll sich an einem 4-Count/5-Count Slow/Fast Pattern versuchen! Vielleicht hilfts hier, wenn man sich vorher bei Dave Brubeck einhört ;-). Wer will, kann auch mit unterschiedlichen Verweilzeiten und galoppierenden Rhythmen experimentieren, das ergibt unterschiedliche Tonlängen bzw. spannendere Musikrhythmen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Zumindest theoretisch kann jedes noch so verrückt ausgedachte Jongliermuster am Klavier gespielt werden.

Und wie ist es umgekehrt? Kann man z. B. die Mondscheinsonate jonglieren? Theoretisch ja. Wie bereits erwähnt, gehen allerdings die Dynamikunterschiede, was hier besonders schade wäre, verloren. Hat man das einmal geschluckt, braucht man 5 Jongleure (entsprechende den 10 Fingern) und soviele Keulen oder Bälle, wie Klaviertasten benötigt werden (maximal 88, aber vermutlich weit weniger). Eine Partitur reicht für die Übersetzung nicht aus, man muss ja auch wissen, mit welchen Fingern die Akkorde angeschlagen werden. Aber das wird wohl bei jedem mittelmäßigen Klavierspieler zu erfragen sein. Dann steht dem nichts mehr im Wege, das Jongliermuster z. B. mit einem sogenannten Ladder diagram grafisch darzustellen. Die praktische Jonglage wird sicher Schwierigkeiten machen. Denn selten vorkommenden Tönen entsprechen sehr hohe, und damit schwierige bis unmögliche Würfe. Die durch unterschiedliche Notenlängen verursachten unterschiedlichen Verweilzeiten können an unseren motorischen Beschränkungen scheitern. Und falls es viele Passes gibt (d. h. oft dieselben Tasten von verschiedenen Fingern angeschlagen werden), sind Kollisionsprobleme vorprogrammiert. Aber der Fantasie sind auch hier keine Grenzen gesetzt.

Kommen wir zurück auf die charakteristischen Zeitparameter eines Jongliermusters: Verweildauer, Leerzeit und Flugzeit. Im Allgemeinen haben diese Zeitparameter, namentlich die Flugzeit, nicht für jeden Wurf den selben Wert. Siteswaps sind ja gerade dann spannend, wenn die Wurfhöhen (und damit die Flugzeiten der Bälle) variieren. Es gibt aber gar nicht so wenige nicht minder interessante Jongliermuster, bei denen diese Zeitparameter für alle Würfe gleich sind: unter anderem alle Kaskaden, Fontänen (egal ob synchron, versetzt oder "hatschert versetzt") und Wimpy Patterns, sowie alle Passingmuster, in denen nur normal gedrehte Singles vorkommen (einschließlich solcher in galoppierendem Rhythmus wie 7-Keulen mit Singles). Für die Zeitparameter diese sogenannten uniformen Muster hat Claude E. Shannon, einer der berühmten Pioniere der Informatik, der auch begeisterter Jongleur und Einradfahrer war, eine einfache Formel gefunden. Sie ist als Shannon's Juggling Theorem bekannt und besagt, dass folgende Gleichung gilt:

(Flugzeit + Verweildauer)/(Leerzeit + Verweildauer) = (Anzahl der Bälle)/(Anzahl der Hände)

Der Beweis nimmt nicht Rekurs auf Jonglierspezifisches oder die Physik. Shannon's Juggling Theorem gilt allgemein für das, was ich weiter oben als "Grundstruktur eines Jongliermusters" bezeichnet habe. Es muss also gemäß unserer Analogie auch fürs Klavierspielen gelten. Allerdings gibt es wohl wenige Musikstücke, für die die Zeitparameter Anschlagzeit, Fingerpause und Tasten-Ruhezeit konstant sind. (Für Johann Sebastian Bach wäre es zwar sicher eine Herausforderung gewesen, unter diesen Einschränkungen zu komponieren, aber da gab's ja das Juggling Theorem noch nicht.) Das Theorem lässt sich aber für beliebige periodische Muster verallgemeinern: Die Formel ist dieselbe, nur sind alle Zeitparameter über die Musterperiode zu mitteln. Daher können wir folgern, dass für die Mondscheinsonate (und jedes andere Klavierstück) die Beziehung gilt:

(Mittlere Tasten-Ruhezeit + Mittlere Anschlagzeit)/(Mittlere Fingerpause + Mittlere Anschlagzeit) = (Anzahl der angespielten Tasten)/10

(Wir müssen dabei beim Mittelwertberechnen nur berücksichtigen, dass wegen der Periodizitätbedingung die Tasten-Ruhezeit bzw. Fingerpause nach dem letzten Anschlag einer Taste bzw. eines Fingers bis zum Ende des Musikstücks und dann wieder von vorn bis zum ersten Anschlag dieser Taste bzw. dieses Fingers gerechnet werden muss.)

Dass Beethoven diese Erkenntnis vom Stockerl gehaut hätte, ist wohl eher nicht anzunehmen. Jedenfalls seh ich aufs erste keine nützliche Anwendung für Klavierspieler oder Komponisten und vielleicht gibt es auch keine. Aber die Überlegungen beleuchten, wie weitreichend und allgemein Shannon's Überlegungen eigentlich waren. Auch das gesamte hier ausgebreitete Klavierspiel-Modell der Jongliermuster hat ja schließlich keine praktische Bedeutung; aber ich habe es mir nicht nur aus bloßer Spiellust ausgedacht, oder um Nadja oder Sternwart zu veräppeln. Es zeigt meiner Meinung nach recht gut, dass die Struktur von Jongliermustern etwas ziemlich Abstraktes und Universelles ist. Aber trotz dieser Allgemeinheit hat es etwas sehr Zwingendes. Denn mit ein paar einfachen Zusatzannahmen können Computerprogramme aus dieser Grundstruktur eine realistische Animation des Jongliermusters erzeugen. Das alles halte ich doch für eine recht erstaunliche Sache.

Danke fürs Zuhören,
wolfgang




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