Die Wahl der Bälle
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  Roman Kellner

  aus:
    Tick. Die Zeitung von Artis-Tick, Nr. 12 (Herbst 1999), p 17
         
Es war einmal ein Land, das war recht klein und hielt sich selbst doch für bedeutsam. In dem Land lebte ein Jongleur namens IPO [1]. Er hatte fünf Bälle von unterschiedlicher Größe und Farbe. IPO bewahrte sie in einer edlen Schachtel auf. Alle vier Jahre - das war so Brauch in dem Land - durfte das Publikum diese Schachtel schütteln. Einmal schüttelte das Publikum besonders kräftig. Als IPO die Schachtel wieder aufmachte, waren nur mehr vier Bälle darin. Der gelbe Ball lag etwas außerhalb und schmollte: "Ich bin persönlich betroffen und stelle fest, daß das Publikum für eine andere Art der Jonglage noch nicht reif ist."

Aber auch die Bälle, die in der Schachtel geblieben waren, hatten sich deutlich verändert. Der kleine grüne war ein wenig gewachsen. Der rote war zwar der größte geblieben, aber deutlich geschrumpft. Der blaue und der schwarze jedoch hatten nun exakt die gleiche Größe. Erst mit Hilfe eines Maßbandes fand IPO, der es genau wissen wollte, heraus, daß der blaue Ball eine Spur größer war als der schwarze.

Die Jongleure und die Jonglierzeitschriften anderer Ländern waren sehr aufgeregt. Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen die Größe des blauen Balles. Denn er neigte zu Drops, und dabei hatte sich oft gezeigt, daß sein Inneres nicht aus sauberen Hirsekörnern bestand. IPO war das peinlich, denn für das Ausland jonglierte er am liebsten die Nummer mit den Mozartkugeln. Der blaue Ball freilich verstand nichts und ätzte, daß er sich schließlich auch nicht in die Muster anderer Jongleure einmische.

Doch die Probleme begannen für IPO erst so richtig mit der Auswahl der Bälle für sein neues Bühnenprogramm. Immerhin hätte er gerne Nummern zusammengestellt, die das Publikum vier Jahre lang zufriedenstellten. Der grüne Ball winkte sofort ab: "Bühne interessiert mich nicht, aber ich werde von der Schachtel aus genau beobachten, ob ihr dropt."

Die anderen drei Bälle entwickelten Allüren. Der rote Ball sagte: "Ich bin klar der Größte. Ich habe jede Menge Bühnenerfahrung, nimm mich. Aber nicht mit dem blauen Ball, weil gegen den kann man höchstens Combat spielen."

Der schwarze Ball war gekränkt ob des papierdicken Unterschiedes. "Manchmal tun Jonglierpausen gut. Ich bleibe auch in der Schachtel", drohte er, obwohl ihm das niemand so recht glaubte. Und der blaue Ball meinte: "Ich stehe zur Verfügung. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß der schwarze Ball das Muster bestimmt. Wenn ich mitgeworfen werde, bleibt jedenfalls keine Cigarbox auf der anderen."

Ganz ruhig, dachte IPO. "Damit die Nummer gut ist, benötige ich zumindest zwei Bälle. Die Nummer mit dem roten und dem schwarzen Ball kann ich unmöglich weiter zeigen. Die kennt das Publikum schon auswendig. Ich könnte natürlich mit dem roten Ball alleine eine Contactnummer machen, aber die wird zu kurz werden für eine eigene Show, außderdem ist sie sehr dropanfällig." IPO begann zu schwitzen. "Den roten und den blauen Ball werde ich nie cross werfen können. Da funktioniert nicht einmal die einfache Kaskade. Säulen in getrennten Händen, links rot, rechts blau bringen aber nichts. Nehme ich aber den schwarzen und den blauen Ball, entsteht zwar vielleicht eine völlig neuartige Nummer, aber ich kann jede Tournee ins Ausland vergessen,. Außerdem wird dann ein guter Teil des heimischen Publikums meine Show boykottieren." Das Publikum begann ungeduldig zu werden. IPO raufte sich die Haare. Immer wieder griff er nach einem Ball, wog ihn etwas in der Hand und legte ihn kopfschüttelnd zurück. "Für so etwas zahlen wir keinen Eintritt", schrien die ersten. "Wir wollen die Schachtel wieder schütteln", ereiferten sich einige, die vom Jonglieren keine Ahnung hatten. Schließlich hob IPO resignierend den roten und den schwarzen Ball aus der Schachtel. "Was bleibt mir anderes übrig, als die alte Nummer noch einige Jahre weiter zu spielen. So schlecht war sie nun auch wieder nicht. Vielleicht kann ich sie verbessern."

Also zog sich IPO für einige Zeit zurück, um an der alten Nummer mit dem roten und dem schwarzen Ball zu basteln. Er gab sich wirklich Mühe, baute sogar schwierige Tricks wie Burke's Barrage und Rubenstein's Revenge ein. Und siehe da, das Publikum würdigte die Bemühungen und akzeptierte die alte Nummer mit dem neuen Gesicht. [2]



[1] Wer meint, er müsse IPO mit Innenpolitik übersetzen, kann dies ja tun.

[2] Natürlich hätte dieses Märchen auch sehr grausam ausgehen können. Da es unter den TICK-Lesern und -Leserinnen auch Kinder gibt, haben wir uns für dieses Ende entschieden.

Anmerkung der Redaktion jonglieren.at: Das Märchen wurde im Herbst 1999 niedergeschrieben. Anfang des Jahres darauf hat sich wieder einmal bewahrheitet, dass es in der wirklichen Welt weit grausamer zugeht als im Märchen. Siehe dazu auch: Jongleure gegen Schwarz-Blau



Roman Kellner (Wien, E-Mail: roman [AT] diekeulquappen . at) ist Jongleur und beschäftigt sich auch mit anderen Varietékünsten. Männliche Hälfte des ArtistInnenduos Die Keulquappen. "FPÖVP" ist auf seiner Homepage als eines jener Dinge vermerkt, auf die er verzichten kann. Als Moderator der Wiener Jongliermelange, der Public Show des ersten Wiener Jonglierfestivals 2002, hat er uns ein weiteres Politmärchen erzählt: Der Herr der Zwänge - die Gefärbten. Berufliche Tätigkeit als Journalist für Greenpeace Österreich, Redakteur und Verfasser zahlreicher Artikel für das österreichische Jongliermagazin Tick.
Weitere Artikel des Autors auf den Webseiten von jonglieren.at: siehe: Index: Kellner, Roman

Alle Rechte verbleiben beim Autor. Veröffentlicht mit seinem Einverständnis und mit freundlicher Genehmigung von Artis-Tick. April 2002.